Haben Sie heute schon gelogen?

 

Nein, ich habe nicht gelogen, aber ich war vielleicht nicht ganz ehrlich, als ich mit einem meiner Studenten sprach, da ich das Gefühl hatte, dass dieser Student gerade eher Ermutigung brauchte, was die Qualität einer laufenden Arbeit anging, als vollständige Aufrichtigkeit. 

Warum haben Sie gerade dieses Thema für Ihr neues Buch gewählt? Gibt es heute mehr Lügen als früher?

 

Ich habe in den letzten paar Jahren ziemlich viel über Wahrheit gearbeitet. Lügen schienen mir ein spannender Weg zu sein, weiter in diese Materie vorzudringen. Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass mehr Menschen früher im Allgemeinen ehrlicher oder weniger ehrlich waren. Allerdings scheinen die derzeitigen Lügen, der Blödsinn und die sogenannten Bauchwahrheiten ein politisches Klima geschaffen zu haben, das oft als “Post-Wahrheit” bezeichnet wird, das heißt ein politisches Klima, in dem wir unsere Sprache vorwiegend als strategisches Werkzeug nutzen, um uns einen Vorteil zu verschaffen. 

Warum hat uns die Natur überhaupt die Fähigkeit zum Lügen gegeben?

 

Sie könnten genauso gut fragen, warum sie uns die Fähigkeit gegeben hat, ehrlich zu sein. Ehrlichkeit besteht aus zwei Komponenten: Aufrichtigkeit und Genauigkeit. Ehrlichkeit macht es möglich, Gedanken zu teilen und damit auch eine Welt. Als soziale Tiere, die wir sind, ist dies wesentlich für unser Dasein. Ehrlich zu sein macht jedoch nur Sinn, wenn man es auch nicht sein kann. Ehe ich entdeckte, dass man auch lügen kann, mit drei oder vier Jahren, war ich nicht ehrlich, ich habe nur einfach die Wahrheit gesagt. Um ehrlich zu sein, muss man eine Fähigkeit zur Unehrlichkeit besitzen. Mein Hund kann nicht unehrlich sein, da er auch nicht ehrlich sein kann. Ehrlichkeit schafft Vertrauen und Beziehungen, ermöglicht uns, Gemeinschaften zu bilden, und Lügner sind Trittbrettfahrer, die dieses Vertrauen ausnutzen.  

Kann ein Mensch ohne Lügen (über)leben?

 

Theoretisch ist das möglich, praktisch aber nicht, denn wir sind fehlbare Wesen. Ich glaube einfach nicht, dass es einen einzigen Menschen gibt, der nie versucht hat, es sich oder anderen durch eine Lüge leichter zu machen.

Warum ist die Wahrheit in jedem Fall besser als eine Lüge?

 

Lügen scheint eine einfache Lösung für ein Problem zu sein, aber auf lange Sicht ist es das meist nicht. Lügen erfordert einen Grad an Aufrechterhaltung, Ehrlichkeit hat das nicht nötig. Man muss aufpassen, was man sagt, man muss sich selbst kontrollieren, um sicherzugehen, sich nicht zu verraten. Hat man verschiedene Menschen belogen, vor allem, wenn die Lügen nicht ganz zusammenpassen, stellt das enorme Anforderungen an den Umgang mit einer Situation, in der mehrere dieser Personen gleichzeitig zugegen sind. Als Lügner hat man es schwerer, in der Begegnung mit anderen Menschen mental wirklich präsent zu sein, denn die Selbstkontrolle untergräbt die Unmittelbarkeit, die eine echte Verbindung ausmacht. Lügen schadet nicht nur potenziell den Beziehungen, die andere Menschen zu einem haben, da die Lügen aufgedeckt werden könnten. Es schadet ihnen auch deshalb, weil Lügen Distanz schaffen. Wenn man die Wahrheit gesagt hat, braucht man über all diese Dinge nicht nachzudenken. Es lässt sich auch feststellen, dass Menschen, die lügen, andere so wahrnehmen, als würde es auch ihnen an Wahrheit mangeln. Derjenige, der lügt, und dem daher nicht zu trauen ist, glaubt also, dass auch andere lügen würden und dass auch ihnen daher nicht zu trauen sei. Ein Lügner, könnte man sagen, lebt in einer anderen Welt als eine ehrliche Person, in einer unglaubwürdigen statt einer glaubwürdigen. Die Wahrheit ist, dass anderen Menschen im Allgemeinen vertraut werden kann, aber indem er lügt, untergräbt der Lügner seinen eigenen Glauben daran, und mit jeder weiteren Lüge wird sich sein Gefühl verstärken, in einer zunehmend weniger vertrauenswürdigen Welt zu leben. Das ist kein gutes Leben.

Was ist schlimmer – mich selbst zu belügen oder andere?

 

Es könnte den Anschein machen, dass es schlimmer ist, andere zu belügen, denn es bedeutet, dass sie einem nicht vertrauen können. Belügt man sich aber überzeugend selbst, dann kann man sich selbst nicht vertrauen. Und wenn man sich selbst nicht vertrauen kann, kann einem natürlich auch kein anderer vertrauen.  

Wie ertappe ich einen Lügner?

 

Man kann keine Techniken erlernen, die helfen, einen Lügner beim Lügen zu ertappen. Die meisten Lügen kommen irgendwann heraus. Durchforscht man die Literatur nach Hinweisen, die darauf deuten könnten, dass jemand lügt, dann wird man schnell feststellen, dass es sie nicht gibt. Es herrscht ein weitverbreiteter kulturübergreifender Glaube, dass Menschen, die lügen, den Augenkontakt vermeiden, aber dafür gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis. Manchmal sehen Lügner einem direkt in die Augen, manchmal nicht. Jemand, der die Wahrheit sagt, könnte einem umstandslos in die Augen sehen, manchmal ist das aber nicht der Fall. Zur Unterscheidung zwischen einem, der lügt, und einem, der die Wahrheit sagt, ist dieses Kriterium wertlos. Dasselbe gilt für Verhaltensmerkmale wie Unfreundlichkeit, Unsicherheit und Zögerlichkeit. Solches Verhalten bewegt Menschen dazu, einem Sprecher weniger zu vertrauen, es steht jedoch in keinerlei Beziehung dazu, ob dieser Sprecher gerade ehrlich oder unehrlich ist. Erscheint man freundlich, gelassen und engagiert, dann denken die Leute eher, man sei ehrlich, aber selbst dies bedeutet nicht, dass man es wirklich ist. Um zu einem besseren Lügendetektor zu werden, kann man nur eines tun: weniger darauf zu achten, wie Menschen sich verhalten, wenn sie etwas sagen, und sich mehr auf das zu konzentrieren, was sie sagen. Klingt das, was sie sagen, plausibel? Haben sie Beweise für das, was sie behaupten? Wenn man einen Lügner ertappen will, sollte man sich weniger auf sein Seelenleben konzentrieren, sondern auf die tatsächlichen Fakten.

Sie differenzieren zwischen “weißen” und “schwarzen” Lügen, können Sie das näher erklären? Und sollte man in unseren “aufgeklärten” Zeiten wirklich von “weiß” und “schwarz” sprechen, wenn man das Lügen bewertet?

 

“Weiße Lügen“ und “schwarze Lügen“ sind gängige Termini, und ich denke, dass wenige Leute, wenn überhaupt, sie fälschlicherweise in irgendeine Verbindung mit einer ethnischen Zugehörigkeit bringen würden. Wenn jemand sie als “grüne Lügen” und “blaue Lügen“ bezeichnen möchte, dann kann er das tun. Ich bezweifle aber, dass man es verstehen würde. Entscheidend ist letztlich nicht, dass sie “weiß“ und “schwarz“ sind, sondern dass es sich um Lügen handelt, und als solche in beiden Fällen nicht zu vertreten.

Was kann der Einzelne im Rahmen der Social Media Kommunikation gegen die Verbreitung unwahrer Tatsachen tun?

 

Da kann man wenig tun, außer kritisch gegenüber den Informationsquellen zu sein. So viele unserer Überzeugungen beruhen auf Vertrauen – oder Glauben –, da es für keinen von uns möglich ist, all unsere Vorstellungen aufgrund direkter Erfahrung zu verifizieren. Man vertraut einigen Quellen und anderen nicht. Auf jeden Fall muss man fragen, welche Beweise die Quelle für diese oder jene Aussage vorlegt, und ob sie tatsächlich vertrauenswürdig ist, das heißt ehrlich und genau. Moderne Wissenschaft ist institutionalisierte Aufrichtigkeit – auch wenn es innerhalb der Wissenschaft natürlich zahlreiche Beweise unwissenschaftlichen Verhaltens gibt. Im Allgemeinen halte ich es aber für viel sinnvoller, wissenschaftlich fundierten Quellen zu vertrauen, als politisierten. In jedem Fall muss man sich und andere stets fragen: Wo liegt der Beweis für diese Behauptung?

Warum gibt es so viele Lügen in der Politik?

 

Die Politik ist ein Bereich menschlichen Verhaltens neben anderen, und so, wie wir in unserem Alltag lügen, lügen wir in der Politik. Wir lügen, da es uns von Vorteil erscheint, in einer Situation die Wahrheit zu umgehen. Und in der Politik liegt der Schwerpunkt darauf, eine politische Wirkung zu erzielen, den Diskurs in eine Richtung zu lenken, die einem wie immer gearteten politischen Ziel dient. Politiker sind so, wie es der frühere norwegische Ministerpräsident Per Borten einmal in einer seiner Parlamentsreden zum Ausdruck brachte, als er sagte, manchmal habe ein Premierminister nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zu lügen. Lügen mag in der Politik als notwendig gelten, ohne dass es für Politiker eine eigene Ethik mit andersgearteten Regeln gibt als für alle anderen. Politische Entscheidungen können sehr viel weitreichendere Konsequenzen haben als Entscheidungen, die wir als Individuen treffen. Daher sollte in einem noch ganz anderen Maße darüber nachgedacht werden, ob eine Lüge in irgendeiner Weise gerechtfertigt ist.

Wie unterschied sich Donald Trumps Art zu lügen von der seiner Amtskollegen?

 

Alle US-Präsidenten haben gelogen. Ronald Reagan beispielsweise hat eine Vielzahl falscher Behauptungen aufgestellt, aber er war Trumps Klasse nie auch nur annährend vergleichbar. Trump unterscheidet sich von seinen Vorgängern. Wo frühere Präsidenten einmal strategische Lügen über bestimmte  Sachverhalte auftischten, hat Trump praktisch über alles gelogen, angefangen bei der trivialsten Kleinigkeit bis hin zu den schwerwiegendsten sicherheits- und gesundheitspolitischen Themen. Eine der Merkwürdigkeiten von Trumps Lügen bestand darin, dass so vieles davon so offensichtlich war, wie beispielsweise die Behauptung über die Zahl der Menschen bei seiner Vereidigung. Dies zeigt eine Missachtung der Realität, wie wir sie sonst nur von totalitären Regimen kennen. Als Präsident erzählte Trump “totalitäre“ Lügen im Rahmen einer liberalen Demokratie. Ich beziehe mich hier auf Hannah Arendts Erörterung der Rolle der Lüge in totalitären Gesellschaften, die sie als “moderne Lüge“ bezeichnet. Arendt betont, dass die moderne Lüge – im Gegensatz zur traditionellen Lüge, die der Geheimhaltung dient – etwas betrifft, was allen klar ist, wodurch eine Geschichte vor den Augen des Menschen, der sie soeben durchlebt, neu geschrieben wird. Es geht nicht darum, die Realität zu vertuschen, sondern sie zu zerstören, damit sie die Lüge nicht zur Rede stellen kann. Die traditionelle politische Lüge zielte darauf, eine Debatte zu gewinnen oder bestimmte Tatsachen auf Kosten der Wahrheit zu verschleiern, während die moderne Lüge die Realität selbst beiseite drängt. Der Totalitarismus wartete mit einer radikalen Vorstellung auf, die auf dem traditionellen Konzept der in Übereinstimmung von Verstand und Realität verkörperten Wahrheit basierte: Wir können Wahrheit produzieren, wenn wir Realität produzieren können! Anstatt eine Realität zu begreifen, sollte der Verstand eine Realität herstellen. Der moderne Lügner ist nicht in erster Linie ein Denker, sondern ein Schöpfer, der Aktionen in Gang setzt, so dass die Worte eines Politikers zur Wahrheit werden, auch wenn sie noch keine Wahrheit sind. Das Besondere bei Trump ist, dass wir diese Art des Lügens nicht aus liberalen Demokratien, sondern nur aus totalitären Gesellschaften kennen. Daher ist Trump ein totalitärer Lügner in einer liberalen Demokratie.

Was denken Sie zum “Lügen” in Zusammenhang mit der Corona Pandemie?

 

Die Corona Pandemie hat uns klargemacht, welche zentrale Rolle der Staat bei der Verteidigung wie der Einschränkung unserer Freiheit spielt. Meiner Meinung nach war es gerechtfertigt, viele der Maßnahmen zu ergreifen, die unsere Freiheit, die wir normalerweise als selbstverständlich voraussetzen, in großem Maß einschränkten. Eine spezielle Freiheit, die in einer solchen Situation jedoch nicht einschränkt werden sollte, ist die Freiheit der Meinungsäußerung. Und für eine liberale Demokratie es ist ein Zeichen von Vitalität, eine seriöse Debatte darüber zu führen, welche Art von Maßnahmen gerechtfertigt sind. Das Problem besteht darin, dass die Debatte von gewissen Gruppen durchsetzt wurde, die wenig Respekt für Begründungen und Belege haben, doch auch der Einzelne in solchen Gruppen besitzt das Recht auf freie Meinungsäußerung. Womöglich hat die Opposition solcher Gruppen die Behörden gezwungen, in der Begründung der verschiedenen Maßnahmen expliziter zu sein.

Was halten Sie vom Begriff “Lügenpresse“?

 

Wenn man einen solchen Begriff gebraucht, begibt man sich in die Nähe der verabscheuungswürdigsten politischen Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie wir wissen, wurde er vom Naziregime genutzt, um Hass gegen Juden und politische Oppositionelle zu schüren. Aber Sie können den Begriff natürlich ohne die Kenntnis seiner Geschichte verwenden und ihn ausschließlich als Kritik gegen die “Mainstream Medien” betrachten. Natürlich sollten wir alle kritisch gegenüber den Informationen sein, die wir aus verschiedenen medialen Quellen erhalten. Es fällt allerdings auf, dass die Leute, die sich am meisten gegen die “Mainstream Medien“ wenden, den Informationen aus anderen Kanälen, wie beispielsweise YouTube, ganz unkritisch gegenüberstehen. Sie fallen ihrem eigenen Drang nach Bestätigung zum Opfer, versichern sich nur ihrer bereits bestehenden Überzeugungen, ohne sich mit Nachforschungen zu plagen, ob diese auch begründet und belegt sind.

Zu guter Letzt: Können Sie noch unbekümmert lügen, nachdem Sie sich so ausführlich mit diesem Thema beschäftigt haben?

 

Ich war nie ein begabter Lügner. Mein Vater allerdings ja, sogar ein ausgezeichneter. Seine Lügen waren nicht bösartig, eher Streiche, und mein Bruder und ich fielen jedes Mal auf sie herein. Meine Mutter durchschaute ihn aber meist. Mir ist es so gut wie nie gelungen, jemanden mit einer Lüge zu täuschen. Einer der Nachteile als Jüngster der Familie besteht darin, dass alle anderen psychologisch im Vorteil sind. Das könnte erklären, warum aus mir nie ein geschickter Lügner wurde – ich hatte so wenig Erfolg damit, dass mir die Inspiration zum Weitermachen fehlte. Davon abgesehen habe ich natürlich vor allen gelogen, mit denen ich in einer Beziehung stand. Vor meinen Eltern, meinem Bruder, meiner Frau, meinen Freundinnen, Kindern, Freunden und Kollegen. Das gebe ich zu. Ich will die Sache aber dadurch versüßen, dass ich im Großen und Ganzen überwiegend ehrlich war. Und das will ich auch weiterhin bleiben, obwohl ich der Versuchung zu lügen bestimmt hin und wieder erliegen werde.

Vielen Dank, Lars Svendsen

 

Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski, Februar 2022