Wer ist Oliver Dierssen?

Ich bin niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie mit dem Arbeitsschwerpunkt Eltern-Kind-Interaktionsstörungen. Das Thema beschäftigt mich seit vielen Jahren. Beinahe bei allen seelischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen zeigt sich auch eine Belastung der Eltern-Kind-Beziehung.

In der Einleitung zu Ihrem Buch schreiben Sie, Sie hätten nie erwartet, ein Buch über Eltern-Kind-Beziehungen zu schreiben, die von Unverständnis, Fremdheit und Abstand geprägt sind. Wie kam es, dass Sie ein solches Buch nun doch geschrieben haben?

In den wegweisenden aktuellen Elternratgebern stehen Bindung und Beziehung ganz im Mittelpunkt. Und das auch zu Recht: Bindungsorientierte Erziehung macht Kinder stark. Zu wenig geschrieben und auch gesprochen wird mir darüber, was passiert, wenn die Beziehung nicht gut gelingt. Über dieses Thema wird zu oft geschwiegen, dabei ist es hochbelastend: Was tue ich, wenn ich mit meinem Kind nicht richtig warm werde, wenn wir uns fremd bleiben und trotz aller Mühen einfach nicht verstehen?

Wer sollte Ihr Buch “Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist (und es deinem Kind mit dir genauso geht)“ lesen?

Mir ist wichtig, dass das Buch sich nicht allein an Eltern wendet, die mit ihren Kindern bereits in höchster Not sind. Zwar gibt es auch hierfür im Buch konkrete Hilfestellungen und Übungen. Dennoch: Fremdheitsgefühle, Zurückweisung und auch Enttäuschung treten in allen Beziehungen auf und sind für Kinder wie Eltern belastend. Darum soll dieses Buch einen Beitrag dazu leisten, Eltern-Kind-Beziehungen anders zu betrachten und allen Eltern helfen, solche Gefühle besser auszuhalten.

Wie ist Ihr Buch aufgebaut? Befinden sich darin auch Übungen?

Das Buch untersucht in acht Kapiteln häufige Störungen der Eltern-Kind-Beziehung: Enttäuschung und Schuldgefühle, Zurückweisung und seelischen Schmerz, Machtkämpfe und Ohnmachtsgefühle, Respektlosigkeit und gegenseitige Kränkungen und ernstere Krisen bis hin zu Gewalt und Suizidalität. Die Kapitel werden durch Fallbeispiele illustriert und enthalten Übungen, die Eltern helfen sollen, mit diesen belastenden Gefühlen besser umzugehen.

Woran liegt es denn, dass Kinder und Eltern manchmal so verschieden sind?

Weil alle Menschen verschieden sind und Eltern und Kinder da keine Ausnahme darstellen. Dies merkt man an Erwachsenen sehr deutlich, die sich ja meist erheblich von ihren Eltern unterscheiden. Diese Unterschiede sind nicht nur notwendig, sondern auch wertvoll, sie sind Ausdruck unserer höchstindividuellen Persönlichkeit, Veranlagung und Entwicklung. Diese Individualität bei Kindern ernstzunehmen und wertzuschätzen ist ein Erfolgsgeheimnis guter Eltern-Kind-Beziehungen.

Sie schreiben, der häufigste Grund, aus dem sich Eltern Hilfe in einer Familienpraxis suchen, sind Machtkämpfe zwischen Eltern und Kindern. Woher kommen diese Kämpfe?

Die meisten Eltern üben nicht etwa “Macht“ über ihre Kinder aus, weil sie die Machtausübung selbst so genießen. (Die Kehrseite elterlicher Machtausübung ist ja die Ohnmacht, und gerade Eltern mit einem hohem Bedürfnis, dass ihr Kind “hört“, berichten häufig über das Gefühl, ohnmächtig zu sein und sich nicht ernstgenommen zu fühlen.) Sie handeln häufig aus der Sorge heraus, die Kinder könnten sich nicht gut entwickeln, wenn sie “machen, was sie wollen“. Kollidiert diese elterliche Sorge mit dem kindlichen Bedürfnis zur freien Entfaltung, kann es zu Machtkämpfen kommen.

Was sind “Ohnmachtszeichen” bei Kindern und warum interpretieren viele Eltern diese Ohnmachtszeichen als Streitlust und Respektlosigkeit?

Jeder von uns sendet Ohnmachtszeichen. Sie treten auf, wenn wir das Gefühl haben, uns entgleitet jede Kontrolle. Erwachsene neigen in solchen Situationen zu impulsivem Verhalten oder gehen aus dem Kontakt. Kindliche Ohnmachtszeichen werden von Eltern manchmal als Respektlosigkeit oder “Nicht-Hören“ fehlinterpretiert: ins Kinderzimmer laufen, sich verstecken, unterbrechen, weinen oder schreien. Diese Verhaltensweisen weisen aber oft auf das kindliche Gefühl von Machtlosigkeit hin. Darum ist es kontraproduktiv, auf solches Verhalten mit noch mehr Druck und Kontrolle zu reagieren, sondern den Konflikt erst einmal abzukühlen.

Können Sie uns etwas über Stolz, Ehrgefühl, Würde und sog. “Scham-Angst“ von Kindern sagen?

Das Gefühl von Würde und Selbstrespekt ist bei fast allen Menschen empfindlich, bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen. Wer beschämt wird, schweigt und zieht sich zurück, oft unter einer erheblichen seelischen Belastung. Darum sind Beschämung und Bloßstellung als Erziehungsmittel nicht richtig. Kinder, die dies häufig erleben, entwickeln eine Angst vor dieser Beschämung und werden zunehmend in ihrem Verhalten gehemmt und verunsichert. Dabei wollen wir doch, dass sie sich selbstbewusst und frei entwickeln!

Was fällt Ihnen ein zu Ironie, Sarkasmus, Resignation und Unhöflichkeiten in der Erziehung?

So wie im Kontakt mit allen anderen Menschen auch entwickeln sich Gespräche und auch Auseinandersetzungen mit Kindern nicht günstig, wenn sie von Ironie, Sarkasmus oder groben Unhöflichkeiten begleitet werden. Wenn sich ein solcher “ironischer Ton“ in einer Familie eingeschlichen hat, ist es nicht leicht, ihn wieder loszuwerden. Die Erwachsenen sollten hier mutig vorangehen, denn vom elterlichen Vorbild lernen Kinder wirklich am besten.

Sie schreiben, Eltern sollten sich erlauben, ihr Kind mit “fremden Augen“ zu sehen. Was genau meinen Sie damit?

Mit fremden Menschen gehen wir oft höflicher um. Wir sehen leichter über ihre Fehler oder Marotten hinweg und bemühen uns um einen verbindlichen Ton, der Konflikte umschifft. Es kann hilfreich sein, sich gelegentlich zu fragen: “Wie würde ich mich jetzt verhalten, wenn es das Kind meiner Nachbarin wäre?“ Automatisch greifen wir dann auf Gesprächsstrategien zurück, die Konflikte unwahrscheinlicher machen und am Ende allen helfen, ihr Gesicht zu wahren.

Was sind “Begabte Eltern“ und was hat das mit “Regretting Parenthood” zu tun?

Der Begriff “Begabte Eltern“ lehnt sich an das populäre Buch “Das Drama des begabten Kindes“ von Alice Miller an. Darin werden Menschen beschrieben, die als Kind (und später noch als Erwachsene) alles dafür tun, gut für andere zu sein. Sie stellen ihre eigenen Bedürfnisse hinten an, nehmen erhebliche Nachteile in Kauf, vernachlässigen vielleicht sogar ihre eigene Entwicklung – um für andere da zu sein. Wer mit dem Gedanken aufwächst, „gut für andere“ sein zu müssen, führt vielleicht auch die Beziehung zum eigenen Kind so. Hieraus kann sich elterliche Überforderung bis hin zum Burnout ergeben, allerdings auch das unausgesprochene Familiengesetz: “Hier darf niemand für sich selbst sorgen, sondern wir sorgen uns immer um die anderen“. Dies schwächt die Fähigkeit der Kinder zur Selbstfürsorge erheblich.

Was ist ein Eltern-Burnout und was lässt sich dagegen tun?

Dass es Burnout-Erkrankungen nicht nur im Berufsleben, sondern auch in der Elternschaft gibt, ist inzwischen wissenschaftlich gut beforscht und belegt. Gerade Eltern, die nach dem Motto leben: „Es ist nicht wichtig, wie es mir geht, sondern wie es meinem Kind geht“, sind hier eine Risikogruppe. Um einen Burnout abzuwenden, der ja mit schwerwiegenden klinischen Symptomen einhergeht, sind Verhaltenstipps allein nicht ausreichend. Wichtig ist, die eigene Haltung zu hinterfragen: Darf ich mich auch mal selbst an erste Stelle setzen? Kann ich mit den Schuldgefühlen umgehen, die mich zu überwältigen drohen, wenn ich mir selbst etwas Gutes tue, ohne mich zuerst um die anderen zu sorgen? Kann ich Mitgefühl mir selbst gegenüber entwickeln?

ein paar praktische Fragen:

Sie schreiben, Eltern sollten auch die unangepassten bzw. nicht zu Ihnen passenden Seiten ihres Kindes lieben und wertschätzen. Sollten Eltern zB den nächsten Wutanfall ihres Kindes zur Abwechslung mal loben?

Zunächst einmal: Wut gehört zu uns Menschen dazu, sie ist eine wertvolle und manchmal sogar sehr konstruktive Emotion. Keineswegs sollten Kinder lernen, dass Wut zu unterdrücken ist. Wenn man gern lobt, kann man Kinder dafür loben, wie sie aus der Wut wieder herausgefunden haben. Jeder Wutanfall endet einmal – auch ein elterlicher. Es tut gut, wenn uns jemand dafür lobt, wie wir am Ende mit dieser schwierigen Situation umgegangen sind, oder?

Wie bekomme ich mein Kleinkind dazu, mit mir zu kommen, wenn ich es von seiner Spiel-Verabredung abholen möchte?

Wenn die Frage meint, wie ich mein Kleinkind dazu bringe, gern abgeholt zu werden und das schöne Spiel freudig abzubrechen, ist die Antwort vermutlich: “Ein Ding der Unmöglichkeit.“ In solchen Situationen entsteht ein Bedürfniskonflikt zwischen Eltern und Kindern. Dieser ist nicht immer zu lösen, sondern es kracht eben auch mal. Wichtig ist dabei sich vor Augen zu führen: Auch wenn wir Bedürfnisse nicht unter einen Hut bekommen, sind sie meist doch legitim – das Bedürfnis des Kindes weiterzuspielen ebenso wie das Bedürfnis der Eltern, nach Hause zu fahren. Sich dies vor Augen zu führen hilft dabei, nicht die Fassung zu verlieren und dem Kind das Gefühl zu geben: “Ich kann gut verstehen, was du möchtest, auch wenn ich es gerade nicht erlauben kann.“

Sollte man seine Kinder auch gegen die eigene Überzeugung einfach mal den Nachmittag “durchzocken“ lassen, um des lieben Familienfriedens willen?

Es liegt selten Segen darauf, gegen die eigene Überzeugungen zu handeln. Eltern sollten ihren Instinkten trauen. Zur Beruhigung muss ich aber sagen: Man darf auch mal inkonsequent sein, das gehört zum Leben dazu. Jeder von uns hat als Kind auch mal zu lange oder heimlich ferngesehen oder Gameboy gespielt. Davon geht die Welt nicht unter.

Wie kann ich mein Kind davon überzeugen, dass es die X-Box ausschaltet und für den Englisch-Test morgen lernt?

Möglicherweise gar nicht, da muss ich als Elternteil die X-Box selbst ausschalten. Als Eltern tragen wir die Verantwortung, und die sollte nicht an die Kinder ausgelagert werden, schon gar nicht garniert mit Vorwürfen. Es ist allerdings anstrengender, solche Mediennutzungsregeln aufzustellen und klar umzusetzen – und meinem Kind danach noch bei den Vokabeln zu helfen.

Wie kann ich meinem Teenie-Kind Hilfe bei seinen sozialen Krisen anbieten, wenn ich den Eindruck habe, dass meine Ratschläge unerwünscht sind?

Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Jugendliche oft sehr kompetent darin sind, Probleme selbst zu lösen. Diese Kompetenz sollten wir ihnen nicht absprechen, sondern nutzen. Ich kann fragen: “Kannst du das Problem allein lösen, oder soll ich helfen?“ Wichtig ist auch, eine rote Linie zu ziehen: “Mit wem löst du dein Problem, wenn du es allein nicht schaffst? Kann ich mich darauf verlassen, dass du dann Bescheid sagst?“ Die meisten Jugendlichen reagieren sehr positiv darauf, dass man ihnen vertraut, und nutzen ein so gestaffeltes Hilfsangebot am Ende tatsächlich.

Und wann hilft ein Ratgeber wie Ihr Buch nicht mehr, wann sollte man sich an eine Beratungsstelle wenden und direkt Hilfe in die Familie holen? Wie geht man dafür vor?

Hierfür finden sich im Buch Checklisten, die bestimmte Problembereiche eingrenzen, wie zum Beispiel Suizidalität, Gewalt oder andere Grenzüberschreitungen. Es gibt ein vielfältiges Hilfsangebot für Familien mit hochkompetenten Helfenden. Meine Botschaft an Eltern ist: Ihr müsst da nicht allein durch. Die eigenen Grenzen zu erkennen und Hilfe anzunehmen, wenn man allein nicht weiterkommt, ist ein Merkmal von erfahrenen und kompetenten Eltern.

Und last but not least: Was kann man tun, um all die schlauen Dinge, die in Ihrem Buch stehen, im Erziehungs-Alltag nicht wieder zu vergessen?

Indem man die Übungen und Anregungen einfach ausprobiert und die Dinge, die funktionieren, immer wieder und häufiger in den Alltag einfließen lässt. Darüber hinaus würde ich mich freuen, wenn mein Buch einen Veränderungs- und Entwicklungsprozess in Eltern anstößt, der über die im Buch beschriebenen Probleme und Lösungen hinausgeht und Eltern ermutigt, die eigene Entwicklung und den eigenen Lebensweg wieder stärker in den Fokus zu nehmen.

Danke für das Gespräch, Dr. Oliver Dierssen