Wer ist Sebastian Guhr? Können Sie sich kurz vorstellen?

Ich wohne in Berlin, ich habe Philosophie und Germanistik studiert, und ich schreibe Romane. Und ich lese viel, klar, bin ja Schriftsteller.

Und wer war Adelbert von Chamisso? Warum widmen Sie sich in Ihrem neuen Buch dem Dichter und Forscher?

Chamisso hatte ein ziemlich aufregendes Leben. Er lebte von 1781 bis 1838, ist als Aristokrat vor der Französischen Revolution geflohen, war Schriftsteller, Botaniker und Weltreisender. Und er hat mit „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ einen Weltbestseller geschrieben. Gleichzeitig war er ein unsteter Wanderer, auch ein etwas linkischer Pechvogel und ein Außenseiter. Und Außenseiter-Figuren reizen mich literarisch einfach.

Warum hat Chamisso heute noch Bedeutung?

Als Migrant, und als jemand, dessen Muttersprache nicht Deutsch war, hat Chamisso auf Deutsch geschrieben, er hatte einen fremden Blick auf deutsche Verhältnisse. Das hat ihm vielleicht geholfen, auf seinen Reisen nach Südamerika und Hawaii eine offenere, man kann schon sagen antikolonialistische Perspektive einzunehmen - und das ist ein sehr aktuelles Thema.

Wer sollte Ihr Buch lesen?

Alle, die einen natur- und literaturbegeisterten Nerd als Hauptfigur mögen, die lesen wollen, wie ein französischer Preuße durch den brasilianischen Urwald stapft, auf der Suche nach... der blauen Blume? Um es mit Tolstoi zu sagen: Als Roman eines klugen, unsicheren und verirrten Menschen wird er lehrreich sein.

Es gibt ja schon ein paar Chamisso-Bücher. Was ist das Neue an Ihrem Buch?

Es gibt natürlich einige Biografien, aber ich habe Literatur geschaffen. Die Erfahrung des Anderen kann man, finde ich, am Besten im Kunstwerk zeigen, durch Verfremdungstechniken, durch Doppelbödigkeit etc... Und dem „Anderen“ ist Chamisso nicht nur auf seinen Reisen begegnet; auch sein eigenes Inneres hat er - ganz dem romantischen Zeitgeist entsprechend - als etwas Unheimliches entdeckt. Innere Abgründe beschreiben, auch das habe ich im Roman versucht.

Und warum haben Sie dem Roman den Titel Chamissimo" gegeben?

Die Endung -issimo ist ja im Italienischen der absolute Superlativ, also kein Vergleichswert kommt vor. Ich fand das witzig und passend für Adelberts Leben.

Wie haben Sie sich über das Leben von Adelbert von Chamisso informiert, wieviel Zeit haben Sie allein in die Erforschung Ihres Themas investiert?

Ich habe natürlich versucht, so viel wie möglich dazu zu lesen, das hat ein ganzes Jahr in Anspruch genommen. Auch Literatur über Südsee-Expeditionen und allgemeine Geschichtswerke waren darunter. Und natürlich habe ich einige Orte seines Lebens besucht. Besonders hier in Berlin ist er ja in der Stadt präsent, sein Grab befindet sich auf dem Friedhof am Halleschen Tor, nur wenige Schritte vom Grab seines Freundes E.T.A. Hoffmann entfernt.

Inwiefern ist Ihr Buch auch eine fiktive Biographie?

Zwar beschreibe ich die wichtigsten Stationen im Leben Chamissos, ich nehme mir aber auch ein paar Freiheiten heraus. Ich wollte ja schon etwas Eigenes machen. Da gibt es in meinem Roman zum Beispiel die Figur des grauen Mannes, dem Chamisso in seinem Leben immer wieder begegnet. Der Graue ist eine mephistophische Figur, also eigentlich ein Gegenspieler und Verführer, der aber letztlich auch Gutes schafft. Diesen Grauen hat es in Chamissos Leben natürlich nicht wirklich gegeben. Außerdem hatte ich beim Schreiben viel Spaß an den amourösen Verwicklungen des jungen Adelbert; so slapstickhaft dürfen Biografien natürlich nicht sein.

Im Roman steckt also genauso viel von Sebastian Guhr wie von Chamisso?

Ja, ich habe meinem Helden zum Beispiel einen Tinnitus verpasst, weil ich selbst einen Tinnitus habe und weil es eine gute Metapher für das oben erwähnte „Unheimlichwerden des eigenen Inneren“ ist. Ich hatte mir vorgenommen, nicht mit zu viel Respekt an die historische Figur und die Zeit zu gehen; ich wollte das sinnliche und spannende Erzählen keinesfalls der historischen Korrektheit opfern.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, das ganze Leben Chamissos zu erzählen und nicht nur eine bestimmte Lebensphase?

Ich wollte sein Leben von der Kindheit bis zum Tod erzählen. Was wird aus seinen Hoffnungen, welche Erfahrungen verändern ihn, während die Jahrzehnte dahinfliegen? In der Literatur finde ich solche Langzeitentwicklungen oft atemberaubend. Dabei wollte ich in Chamissimo kein exemplarisches Leben beschreiben, denn dann hätte ich Adelberts Leben einer einzigen Idee unterordnen müssen. Ein Leben, das der Vielfalt gegenüber offen ist, muss zwangsläufig disparat sein, und als Autor bestand die Herausforderung darin, aus verschiedensten Facetten eine Geschichte zu machen.

Ihr Buch liest sich wie eine turbulente Reise in die europäische und literaturhistorische Vergangenheit. Können Sie uns schon mal eine kurze Vorschau auf diese bewegte Zeit geben?

Man kann sagen, dass Adelbert in einer Übergangsepoche lebte, als Kind ist er im Absolutismus aufgewachsen, als älterer Erwachsener hat er aber auch schon die beginnende industrielle Revolution erlebt. Es gibt da die Wirren der Französischen Revolution, den Pomp am preußischen Hof in Berlin, auch die romantischen Salons dort, wo er die Größen der Zeit traf. Gegen Ende seines Lebens ist er auf einer der ersten Eisenbahnstrecken Deutschlands mitgefahren.

War „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann Inspiration für Ihr Buch?

Als Autor ist Daniel Kehlmann auf jeden Fall ein Vorbild dafür, wie ein historischer Roman leicht, unterhaltsam und intelligent erzählt werden kann. Adelbert trifft in seinem Leben ja mehrmals Alexander von Humboldt, also einen der beiden Protagonisten von „Die Vermessung der Welt“. Da habe ich mich schon inspirieren lassen, ja.

Das Cover Ihres Buches ist sehr schön geworden. Hatten Sie einen Einfluss darauf?

Ja, wir haben eine Verbindung zwischen Rokoko und Naturwissenschaft gesucht und gefunden. Rokoko kommt ja von Rocaille, was Muschel bedeutet, und tatsächlich kann man an den Decken der alten Rokokosäle viele Muscheln und Meeresgetier sehen. Das passt perfekt zum Meeresbiologen Chamisso. Auf dem Cover gibt es deshalb echte Muscheln und Rokoko-Schnörkel.

Welchen Bezug haben Sie zu Berlin, der Stadt, in der Adelbert von Chamisso die meiste Zeit seines Lebens verbrachte und auch begraben liegt?

Ich wurde in Berlin geboren, ich habe hier studiert, ich wohne hier. Kürzlich bin ich von Neukölln nach Wilmersdorf gezogen, und ich bin immer noch dabei, die Stadt zu entdecken. Manchmal macht mich Berlin fertig, aber wenn ich im Abendrot über den Ku’damm spaziere, bin ich versöhnt.

Und last but not least: Sind Sie auch selbst ein Weltreisender?

In meinen Zwanzigern habe ich Westafrika, China und Kanada bereist - aber inzwischen ist das ja gar nichts besonderes mehr, und außerdem gleichen sich die Weltgegenden immer mehr an. Wobei mich bei der Recherche zum Roman übrigens überraschte, wie globalisiert die Welt zu Chamissos Zeiten schon war. Ich selbst reise heute lieber in Büchern, da findet man noch das wirklich Unbekannte.

Danke für Deine Zeit, lieber Sebastian Guhr